Fußnote – die Glosse im Guller
Krankhafte Gelüste

Gebt mir 20 Liter Hagebuttentee mit Zitrone und Honig, zehn Kilo Äpfel und eine Familienpackung Zwieback. Okay, vielleicht noch einen großen Topf mit Hühnersuppe und eine Schüssel Grießbrei, am liebsten mit Sauerkirschen, das wäre auch nicht schlecht. Ist nicht noch ein Stück Camembert im Kühlschrank? Schade, dass es kein Baguette im Haus gibt. Aber der Bäcker ist ja gleich in der nächsten Ortschaft. Ob wohl jemand schnell für mich dort vorbeifahren könnte? Apropos Bäcker, so eine Butterbrezel wäre jetzt auch etwas Feines.

Wenn mich eine Erkältung niederstreckt, will ich nur meine Ruhe und ein bisschen etwas essen. Da gibt es doch wirklich schwierigere Patienten. Meine Familie findet es dagegen unheimlich, welchen Appetit ich bei Krankheiten entwickle.

Inzwischen haben Sie mir tatsächlich verboten, in ihrer Abwesenheit etwas beim Lieferdienst zu bestellen. Angeblich soll ich im Fieberwahn mal einen Pizzaboten in die Hand gebissen haben, weil er mir die Bestellung nicht schnell genug überreichte. Nur das beherzte Eingreifen eines Nachbarn hätte Schlimmeres verhindert. Es soll ihm mit einer Scheibe Speck gelungen sein, mich abzulenken, so dass sich der Pizzabote in Sicherheit bringen konnte.

Ich habe meine Zweifel, ob sich das Ganze wirklich so zugetragen hat. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran. Was allerdings auch an der Wirkung von zwei Teelöffeln Klosterfrau Melissengeist liegen kann. Mit diesen wollten mich meine Lieben für die Zeit ihrer Abwesenheit in einen gesunden Schlaf schicken. Hätten sie mir statt dessen mal lieber eine Pizza Funghi dagelassen.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass Menschen, nichts essen möchten, nur weil sie erhöhte Temperatur haben? Mein Körper braucht im Kampf gegen Krankheiten Kalorien. Deshalb ist es äußerst beklagenswert, wie wenig Verständnis meine Familie in dieser Hinsicht für mich aufbringt. Statt mir bei Halsschmerzen und Schüttelfrost mit Vanilleeis oder Pfannkuchen zur Seite zu stehen, tun sie so, als hätte ich krankhafte Gelüste und versuchen mich mit Hals-pastillen und Paracetamol abzuspeisen. Aber was erwartet man von Menschen, denen bei einer Erkältung schon eine halbe Kiwi zu viel ist.

Der Mann, mit dem ich Tisch und Bett, aber nicht die Appetitlosigkeit bei Krankheit teile, wäre sofort bereit, für mich Sternenstaub aus dem Weltall zu holen, würde mir das ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Gelüstet es mich aber bei Grippe nach einer Portion Käsespätzle, findet er das sonderlich. Selbst mein eigen Fleisch und Blut tut so, als wäre seine Mutter ein verrückter Freak, nur weil ich während einer Magenverstimmung mal zwei Kilo zugenommen habe.

Was soll's, sollte mich die aktuelle Erkältungswelle erwischen, habe ich vorgesorgt. In einem Schuhkarton unter meinem Bett sind Müsliriegel und andere Notreserven gebunkert. Jetzt suche ich nur noch einen Pizzaservice, der per Drohne an mein Schlafzimmerfenster im zweiten Stock liefert.
Anne-Marie Glaser

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