Tag der Deutschen Einheit mit Ingo Schulze
"Erste Fahrt in den Westen"

Autor Ingo Schulze über die Einheit und seine Erlebnisse in Altenburg und Offenburg | Foto: Gaby Gerster
  • Autor Ingo Schulze über die Einheit und seine Erlebnisse in Altenburg und Offenburg
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Ortenau. Am kommenden Samstag jähren sich die Feierlichkeiten zur Unterzeichnung des deutsch-deutschen Einigungsvertrages zu 30. Mal. Ein Zeitzeuge, der die Einheit im Osten erlebte und bei mehreren Besuchen auch die Ortenau und die Badener erlebte – zuletzt war er Gesprächspartner von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bei den Salmengesprächen zum Freiheitstag – ist der Autor Ingo Schulze. Rembert Graf Kerssenbrock sprach mit ihm über die Einheit, seine Erinnerungen und Einschätzung.

Erst Dramaturg, dann Verleger

Wo und wie haben Sie den Fall der Mauer erlebt?
Ich arbeitete seit 1988 am Landestheater Altenburg als Dramaturg, dadurch war es leicht, nach Leipzig zur Demonstration zu fahren. Der 9. Oktober war der entscheidende Tag im Herbst 1989. Zum ersten Mal konnte sich die Demonstration ungehindert ihren Weg suchen. Von da an gab es keine Gewalt mehr gegen Demonstranten. Wichtig war, dass wir die eroberte Freiheit auch auf die Ökonomie ausdehnten, es ging darum, diejenigen zu wählen, die man für fähig und integer hielt und darum, sich das Volkseigentum anzueignen. Insofern waren diese Monate eine gelebte Utopie, die dann gewissermaßen durch das Versprechen und dann die Einführung der D-Mark beendet wurde.

Welche Bedeutung hatte die Städtepartnerschaft zwischen Altenburg und Offenburg in Ihrem Erleben während der Wendezeit und unmittelbar danach?

Für mich bestand die Partnerschaft vor allem in persönlichen Kontakten, die sich wie im Falle von Rainer Männle, dem damaligen Referenten von Offenburgs Oberbürgermeister Wolfgang Bruder, in Freundschaft gewandelt haben und bis heute bestehen. Ich hatte ja mit Freunden zusammen im Februar 1990 das Altenburger Wochenblatt gegründet, das mit 20.000 Exemplaren startete und 90 Pfennige kostete. Offenburg spendierte uns ein Diktiergerät, mit dem ich ein paar Wochen später Johannes Rau interviewte, der sich wunderte, wie ich zu diesem Ding gekommen bin.

Wie entstand Ihr persönlicher Bezug zu Offenburg?
In meinem Roman „Neue Leben“ habe ich den ersten Besuch in Offenburg geschildert. Es war, abgesehen von einem kurzen Besuch Westberlins, meine erste Fahrt in den Westen. Da war alles neu, wirklich alles. Ich habe mich damals unsterblich bei den Grünen blamiert, weil ich weder wusste, was eine „BI“ ist, noch was sich hinter dem Sammeln von Kröten verbarg. Ich dachte, „Kröten“ wäre ein Synonym für Geld. Am nächsten Abend wurden wir dann noch „heimlich“ ins Auto gepackt, es ging nach Straßburg, inklusive Restaurantbesuch.

Wie bewerten Sie die Einheits-Stimmung in Altenburg und Offenburg heute, was muss noch getan werden?
Es gibt in Europa kein Land, in dem der Bevölkerung so wenig von dem Grund und Boden gehört, an Immobilien und Betrieben wie in den östlichen Bundesländern. Bundesweit sind Ostdeutsche nur zu 1,7 Prozent in Spitzenpositionen. Das Ungleichgewicht wird im wahrsten Sinne des Wortes vererbt. Das muss man erst mal zur Kenntnis nehmen.

30 Jahre nach dem Einheitsvertrag: Als wie gelungen bezeichnen Sie den Stand aus heutiger Sicht?
Leider haben wir Ostdeutschen es damals nicht fertiggebracht, die Probleme erst mal unter uns zu lösen, um dann selbstbewusst in eine Vereinigung zu gehen. Das hätte auch dem Westen gutgetan. Jeder wusste, dass der eigene Betrieb nicht plötzlich in D-Mark würde zahlen können. Heute wünschte ich mir, dass nicht immer nur die ehemalige DDR problematisiert wird, sondern auch die ehemalige BRD. Es geht nicht um das Aufrechnen oder um Gleichheitszeichen, sondern darum, wo wir Ansätze in unseren verschiedenen Geschichten finden, die heute für uns relevant sind. Wir wissen doch, dass es letztlich kein „Weiter so!“ geben darf.

Sie waren als Autor für die Offenburger Wortspiel-Reihe geplant, als die Pandemie auftrat und Ihr Auftritt abgesagt wurde. Jetzt haben Sie mit Wolfgang Schäuble diskutiert. Wie bewerten Sie seine Rolle in diesem Prozess?
Kritisch.

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