"Herbstzeit" bringt Bedürftige und Familien zusammen
Pflegefamilie statt Senioreneinrichtung

Walter K. ist der "Gast-Opa" bei der Familie von Stefanie Kempf (r.) – vermittelt von Heike Schaal und der Herbstzeit. | Foto: tf
  • Walter K. ist der "Gast-Opa" bei der Familie von Stefanie Kempf (r.) – vermittelt von Heike Schaal und der Herbstzeit.
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  • hochgeladen von Rembert Graf Kerssenbrock

Ortenau (tf). Freundlich lächelnd kommt Walter K. ins Esszimmer, setzt sich und grüßt mit dem Wort „Scheiße“ in die Runde. Liebevoll schaut Stefanie Kempf ihn an und sagt: “Ja, heute haben wir Besuch – schön, nicht?“ Seit bereits vier Jahren ist Walter K. als Pflege-Senior bei der vierköpfigen Familie, nach einem Schlaganfall ist er beim Gehen stark eingeschränkt und kann nur noch „Sch...“ sagen. „Aber ich verstehe ihn trotzdem gut“, sagt Kempf. „Im Zusammenleben lernt man sich täglich besser kennen, da braucht es nicht immer Worte.“ Über den Fachdienst "Herbstzeit" kam K. in die Familie. „Wir wollten ein Vorbild sein, eine soziale Sache fördern“, erklärt die 38-Jährige. „Einen Gast-Opa zu haben, fanden wir von Anfang an eine super Idee.“

Bereits seit zehn Jahren vermittelt Heike Schaal mit ihrem Team von "Herbstzeit – Betreutes Wohnen für alte Menschen in Familien" pflegebedürftige Menschen im Ortenaukreis und dem Landkreis Emmendingen in Familien, hat damit das System Pflegekind erfolgreich adaptiert. „Wir möchten mit unserem Angebot eine Wahlmöglichkeit anbieten“, so Schaal. Nicht jeder Senior möchte in ein Seniorenheim und auch manche Familie ist mit der Pflege eines Angehörigen überfordert. „Irgendeiner muss es dann tun und das führt zu einem unguten Klima“, so die Diplom-Sozialpädagogin. Bei den Pflegefamilien sind die Bewohner in den Tagesablauf integriert und ein Teil der Familie. Manche der Vermittelten brauchen mehr Unterstützung, andere sind noch relativ selbstständig.

Walter K. spielt gerne mit der Familie Gesellschaftsspiele und schaut mit ihr das Fernsehprogramm an. Aber er braucht auch seine ruhigen Zeiten, kann sich in sein Zimmer zurückziehen.

Um sich als Pflegefamilie bei Herbstzeit zu bewerben, gebe es außer einem freien Zimmer keine Voraussetzungen. Auch die Senioren müssten erst einmal keine Bedingungen erfüllen. „Beide Seiten müssen den Mut haben, sich auf etwas Neues einzulassen“, sagt Schaal: „Für die Beteiligten soll es eine Win-Win-Situation sein.“ So vermittelt sie auch Senioren, die ihr Haustier behalten möchten oder spezielle Wünsche an den Wohnort haben. Es gilt, die beiden passenden Puzzleteile zu finden. Darum gibt es zwei Wartelisten: eine mit potenziellen Pflegefamilien und eine mit Pflegebedürftigen, die eine passende Familie suchen. „Eine Person wollte unbedingt ihre Hühner mitbringen – jetzt haben wir sogar dafür die passende Familie“, freut sich die Initiatorin. Auch Alleinerziehende, Paare oder Singles können sich als Gastfamilie anbieten. Ist die passende Familie gefunden, gibt es ein Kennenlernen und ein anschließendes Probewohnen. Sind sich beide Seiten einig, kann der Pflege-Senior einziehen.

Natürlich ist das Zusammenleben nicht immer einfach. Doch wie in einer Familie gilt es auch hier, gemeinsam Probleme zu bewältigen. Dabei helfen die Mitarbeiter von "Herbstzeit" mit ihren regelmäßigen Besuchen, Supervision und der 24-Stunden-Notfall-Erreichbarkeit. Und natürlich wachsen Familie und Senior auch miteinander und aneinander.

So wie Stefanie Kempf, die gerade eine Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin macht. „Durch Walter habe ich eine ganz neue Sicht auf das Alter bekommen. Wir möchten ihn nicht mehr missen – er gehört inzwischen zu unserer Familie“, sagt sie und umarmt den älteren Herrn lächelnd. Er lächelt zurück und kommentiert es glücklich mit „Sch...“.

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