Lutz Großmann im Interview
"Wichtig, neue Perspektive wahrzunehmen"

Lutz Großmann lebt mit seiner Familie seit rund einem Jahr in der Türkei. | Foto: privat
  • Lutz Großmann lebt mit seiner Familie seit rund einem Jahr in der Türkei.
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Ortenau (mak). Der ehemalige Rektor der Heimschule Lender in Sasbach, Lutz Großmann, arbeitet seit rund einem Jahr als Schulleiter der Deutschen Botschaftsschule in der türkischen Hauptstadt Ankara. Wie es dazu kam und wie er sich dort eingelebt hat, verrät er im Gespräch mit Matthias Kerber.

Wie kam es dazu, dass Sie die Stelle als Schulleiter in Ankara übernommen haben?
Nach 13 Jahren an der Heimschule Lender in Sasbach, davon elf Jahre als Schulleiter, kam der Gedanke auf, den Blick noch einmal zu weiten. Der Gedanke, mal längere Zeit im Ausland zu leben, war schon länger da, wurde dann aber im Alltag nicht näher verfolgt. Und doch schaute ich immer wieder flüchtig auf die Stellenanzeigen des Auslandsschulamtes in Bonn. Längere Zeit war eine Stelle in Japan ausgeschrieben, die mich faszinierte. Doch die Zeit war noch nicht reif. Zu gerne war ich an der Lender und inmitten des schulischen Alltages waren die Auslandsgedanken auch schnell wieder weg. Dann gab es einen ersten Kontakt. Jetzt war es Sao Paulo in Brasilien. Dort kannte ich den Schulleiter aus früheren Zeiten in Berlin. Da wir aber mit der ganzen Familie gehen wollten, konnte ich mich mit der prekären Sicherheitslage in Brasilien nicht so recht anfreunden. Eines wollten wir nicht, nämlich als Familie in einer bewachten Anlage wohnen. Und schließlich las ich im Sommer 2018 die Ausschreibung von Kiew und Ankara. Beide Schulen schrieb ich an. Mit der Türkei ergab sich gleich ein netter Telefonkontakt, sodass wir am Ende der Sommerferien einen Termin vor Ort vereinbarten. Letztlich ergab sich daraus die Bewerbung und schließlich die neue Stelle.

Seit wann genau arbeiten Sie in der Türkei?
Ich habe meinen Dienst am 1. August 2019 angetreten. Das war ganz schön hektisch, schließlich ging das Schuljahr in Baden-Württemberg noch bis zum 27. Juli. Wir sind flott ausgezogen, haben in Oberachern die Zelte abgebrochen und sind dann am 31. August direkt von Berlin nach Ankara geflogen.

Wie lange bleiben Sie dort?
Ich habe einen Vertrag über sechs Jahre. Doch wie lange man dann tatsächlich bleibt, hängt im Ausland immer von vielen Parametern ab. So geht es dabei nicht allein um die Situation an der Schule, sondern immer auch um politische oder zurzeit um gesundheitliche Rahmenbedingungen. Und auch der Blick auf das Wohlergehen der eigenen Familie spielt eine wichtige Rolle. Doch jetzt blicken wir erst einmal optimistisch nach vorn. Ich bin an einer netten Schule gelandet und möchte gern gestalten und Impulse setzen.

Was hat Sie an der Stelle besonders gereizt? Haben Sie eine bestimmte Affinität zur Türkei?
Eigentlich komme ich ja aus Berlin. Dort war ich das multikulturelle Zusammenleben gewöhnt und ich habe es immer als eine große Bereicherung empfunden. Meine letzte Klasse, die ich in Berlin als Klassenlehrer begleitete, vereinte sieben verschiedene Kulturen. Um ehrlich zu ein, haben mir diese Erfahrungen manchmal in der Ortenau etwas gefehlt. Umso mehr freute ich mich, als wir an der Lender syrische Flüchtlinge aufnahmen. Es ist ungeheuer wichtig, dass wir alle immer wieder neue Perspektiven wahrnehmen und offen bleiben, für die Sichtweisen und Erfahrungen anderer Menschen.
In Berlin hatte ich vor allem an der Uni einige türkische Kommilitonen und einen tollen Dozenten, mit denen ich mich sehr gut verstand. Außerdem plante ich als Politiklehrer eine Kursfahrt nach Istanbul. Mehr Berührungspunkte gab es aber nicht. Dennoch dachte ich mir, dass es sicher eine sehr positive Bereicherung sein kann, in der Türkei gelebt zu haben. Als Schulleiter und Lehrer wird mir dies auch später in Deutschland im Alltag vielleicht dienlich sein können.

Wie schnell haben Sie sich eingelebt?
Wir haben uns sehr schnell eingelebt. Unsere ganze Familie ist an der Schule. Die beiden Kinder besuchen mittlerweile die 4. und 8. Klasse, meine Frau unterrichtet Französisch und ich bin als Schulleiter sowie Politik- und Geschichtslehrer an der Schule. Da wir alle im schulischen Alltag eingebunden sind, stellen sich auch hier ganz schnell Routinen ein. Das Leben läuft weiter und viele Aufgaben sind doch auch sehr ähnlich. Zudem haben wir viele sehr hilfsbereite Menschen an unserer Seite, die uns unterstützen und uns Brückenbauer sind.

Was waren die größten Herausforderungen?
Herausforderungen gibt es viele. Da ist natürlich zunächst einmal die fremde Sprache. Doch mit jedem Wort mehr wachsen neue Beziehungen. Die Vielzahl der Alltagsaufgaben und die Coronazeit haben unseren Fremdspracherwerb etwas verzögert. Eine große Herausforderung an einer Auslandsschule ist die extreme Heterogenität der Schülerschaft. Viele Schüler sind oft nur auf Zeit hier, müssen oft wieder die Schule verlassen, wenn sie gerade richtig integriert sind. Unsere Schülerschaft stammt aus Diplomatenfamilien oder es sind Kinder von Eltern, die in internationalen Firmen arbeiten. Der Großteil der Kinder kommt aus Familien mit deutschen und türkischen Wurzeln. Häufig wurden die Eltern in Deutschland geboren und möchten, dass ihre Kinder die deutsche Sprache und Kultur bewahren.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Aufgabe in der Türkei von der in Deutschland?
Der größte Unterschied ist, dass ich hier als ehemaliger Gymnasialschulleiter auch für den Kindergarten und die Grundschule zuständig bin. Dies empfinde ich aber als eine große Bereicherung, denn bei den Kindern stehen grundsätzliche pädagogische Fragen noch mehr im Mittelpunkt als auf der weiterführenden Schule. Zudem ist man an der Auslandsschule auch ein wenig „Botschafter“ der deutschen Kultur. Es gibt viele Kontakte mit der Deutschen Botschaft, dem Goethe-Institut oder anderen internationalen Einrichtungen.

Wie beurteilen Sie das deutsch-türkische Verhältnis im Augenblick? Nehmen Sie Veränderungen wahr?
Bei dieser Frage geht es immer um verschiedene Perspektiven. Grundsätzlich sehe ich unsere Völker recht nah beieinander. Der Austausch auf der Ebene der Universitäten, der Wirtschaft und der Menschen allgemein ist sehr groß. Die deutsch-türkische Community ist groß. Ich glaube, dass wir in Deutschland die Kraft, die im sich Begegnen steckt, oft gar nicht richtig erkannt haben. Wir sind uns als Menschen näher als wir glauben. Ich erlebe die türkische Bevölkerung hier in Ankara in der Mehrzahl als sehr modern, weltoffen und dem Westen sehr zugeneigt. Die Türkei ist eine wichtige Brücke zum Orient und hat damit für Europa eine herausragende Schlüsselstellung. Auch im Rahmen der Flüchtlingskrise übernimmt die Türkei riesengroße Aufgaben. Es gibt eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Roten Kreuz und dem Roten Halbmond. Ich konnte hier in Ankara ein Flüchtlingszentrum besuchen und war erstaunt von diesen wichtigen Kooperationen.
Grundsätzlich war ich auch früher schon eher ein Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei. Aus meiner Sicht sollten jedenfalls keinesfalls die Beitrittsverhandlungen völlig beendet werden.
Für mich ist wichtig, dass der Dialog zwischen den Menschen weiter lebendig gehalten wird, auch wenn es immer wieder politische Abkühlungen gibt. Dialog ist immer besser als Schweigen oder gar Konfrontation. Politisch gesehen glaube ich, dass beide Seiten doch wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind: wirtschaftlich und vor allem auch sicherheitspolitisch. Für mich als Politik- und Geschichtslehrer ist es natürlich spannend, hier vor Ort manche Entwicklung näher verfolgen und miterleben zu können.

Wie begegnet man Ihnen als Deutscher im Alltag?
Wie oben schon gesagt, sind die Türken sehr offen, gastfreundlich und hilfsbereit. Es gab keinen Moment, wo wir uns allein fühlten. Immer findet sich ein Weg, so zum Beispiel auch wenn man mit Möbelkisten am Taxistand steht und selbst nicht mehr weiß, wie man die Einkäufe nach Hause bekommen kann. Es heißt meist „Problem yok!“. Es gibt kein Problem, das nicht irgendwie gelöst werden könnte.

Was vermissen Sie am meisten?
Das kann ich ganz schnell sagen. Es ist das Radfahren! Man sieht hier in Ankara so gut wie keinen Radfahrer. Mir scheint es manchmal so, als begriffen sich die Autofahrer als einzige Verkehrsteilnehmer. Und noch etwas vermisse ich: die Mülltrennung. Der Hausmüll wandert unsortiert in die Container, ganz gleich ob Papier, Glas, Aluminium, Plastik oder organische Abfälle. Damit tut man sich als gut trainierter Abfallsortierer schon recht schwer. Natürlich vermisst man im Ausland auch seine Lieben daheim. Der Weg ist für einen Wochenendausflug ja doch zu weit…

Was gefällt Ihnen besonders gut am Leben in der Türkei?
Insgesamt geht man hier etwas gelassener an die Probleme heran. Manchmal legt man einfach los, auch ohne einen genauen Plan zu haben. Der entwickelt sich oft erst beim konkreten Tun. Außerdem genieße ich die Zeit beim Cay , also Tee. Am Ende eines langen Schultages oder auch zwischendurch tut es einfach gut, mal Distanz aufzubauen und einige Minuten einfach nur zu genießen. Gerade im Sommer sind wir wir auch gern auf die großen Obst- und Gemüsemärkte gegangen. Pfirsiche oder Aprikosen von solcher Reife habe ich im deutschen Supermarkt selten im Wagen gehabt. Ankara ist außerdem sehr zentral gelegen, sodass wir von hier aus gern noch mehr das Land in allen Richtungen entdecken wollen.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Ihr Leben und Beruf ausgewirkt?
Das ist ein schweres Thema, das gerade zurzeit wieder akuter wird. Von März bis Juni galt für die Kinder eine 100-prozentige Ausgangssperre, sie durften gar nicht auf die Straße. Seit dem 1. September sind bei uns nur drei Stufen in der Schule, erste, zehnte und zwölfte Klasse. Hierbei handelt es sich aber auch nicht um eine offizielle Schulöffnung, sondern nur um Vorbereitungskurse für die Schule beziehungsweise für Prüfungen. Alle anderen Kinder und Jugendlichen werden vorerst weiter online betreut. Insgesamt klappt das ganz gut, aber natürlich haben auch wir mit zu schwachen Internetleitungen oder fehlender Hardware zu kämpfen. Aber meine Kollegen haben sich ordentlich ins Zeug gelegt. Corona hat uns ins digitale Zeitalter hineingeschleudert. Einerseits ist dies sicher auch gut, andererseits fehlt der so wichtige direkte Kontakt in der Schule. Die Sehnsucht nach Normalität ist sehr groß. Auch die Maskenpflicht auf der Straße und in der Schule macht es nicht leicht. Wir hoffen, dass uns ein erneuter Lockdown erspart bleibt.

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