IHK-Präsident Eberhard Liebherr
Mangel an Fachkräften in allen Branchen

Eberhard Liebherr ist neuer Präsident der Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein. | Foto: Bode/IHK
  • Eberhard Liebherr ist neuer Präsident der Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein.
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Ortenau. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) ist ein wichtiger Faktor für Unternehmen bei der Rekrutierung neuer Fachkräfte. Rembert Graf Kerssenbrock sprach mit dem neuen IHK-Präsidenten Eberhard Liebherr über die aktuelle Situation.

In vielen Branchen sind die Auftragsbücher voll, Kunden kaufen und investieren: Wie zufrieden sind Industrie und Handel?
Hier müssen wir die boomenden Branchen von denen, die stark unter der Pandemie und ihren Auswirkungen gelitten haben, abgrenzen. Eine signifikante Mehrheit der Industrieunternehmen verzeichnet einen höheren Auftragsbestand als vor der Corona-Krise. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wird die Angebotsseite wieder zum vorherrschenden Thema. Jedoch sind Vorprodukte, Rohstoffe, Transportkapazitäten und Energie nicht ausreichend verfügbar oder im Preis so stark gestiegen, dass es für die Unternehmen nicht mehr wirtschaftlich ist und als Folge beispielsweise in der Industrie weniger produziert wird. Schwach digitalisierte Lieferketten leiden zudem nicht nur unter Produktionsstau, sondern auch unter Engpässen an Fachkräften. – Überhaupt: der Fachkräftemangel ist die Sorge Nummer 1, über alle Branchen hinweg. Die strukturellen Probleme des stationären Handels, besonders in Innenstadtlagen, wurden durch die Coronamaßnahmen stark beschleunigt. Doch auch hier sind die Gefälle unterschiedlich. Viele Lebensmittelhändler sind gut durch die Pandemie gekommen. Andere Bereiche dagegen kämpfen derzeit ums Überleben. Der Online-Handel hat nicht nur an Marktanteilen hinzugewonnen, sondern auch das Online-Einkaufserlebnis scheint bei Konsumenten neue Reize auszulösen. Jetzt gilt es, die Innenstädte neu zu denken.

Hat sich der Mangel an Fachkräften in einigen Branchen durch die zurückkehrende Normalität bei der Pandemielage entspannt?
Definitiv nicht. Unser erst kürzlich veröffentlichter Konjunkturbericht hat es deutlich gemacht: 60 Prozent der Befragten können ihre offenen Stellen nicht besetzen. Fachkräfte aus der Gastronomie haben in anderen Gewerken Arbeit gefunden; Hotels und Gaststätten müssen ihre Öffnungszeiten einschränken. In der Bauwirtschaft werden Aufträge nicht mehr angenommen. Aber: Immer mehr Unternehmen finden auch keine unqualifizierten Arbeitskräfte oder Ausbildungsanfänger mehr. Das zeigt, dass der Fachkräftemangel immer mehr von einem Problem in der Spitze zu einem Problem in der Breite wird und wir am südlichen Oberrhein bei der aktuellen Lage schon von einem Arbeitskräftemangel sprechen können. All das macht bereits jetzt sichtbar, was uns in wenigen Jahren blüht, wenn die Babyboomer-Generation endgültig in Rente gegangen ist.

Bei welchen Zielgruppen sehen Sie Chancen, weitere Fachkräfte zu gewinnen?
Ziel muss es in Unternehmen sein, nun auf Eignungen und Willen zu achten und neuen wie bestehenden Mitarbeitenden Zusatz- und Nachqualifizierungen anzubieten. Vielleicht ist der Ausdruck wissenschaftlich vage, aber in der Praxis realistisch: Die lernwillige Zielgruppe ist eine sehr unterschätzte. Bei Beschäftigten ohne Abschluss gibt es ein enormes Potenzial zur Entwicklung von Fachkräften. Einwanderung aus Drittländern ist ebenfalls ein Thema, doch ist hier auch die Politik gefragt: die bürokratischen Hürden für qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittländern sind noch zu hoch. Laut Agentur für Arbeit brauchen wir deutschlandweit 400.000 Zuwanderer jährlich, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Doch nicht mal 30.000 Visa sind im ersten Halbjahr 2021 erteilt worden. Eine weitere Gruppe ist bereits in den Unternehmen: die weiblichen Fachkräfte. Doch wie ist die Realität? Teilzeitarbeit und Minijobs sind Frauendomänen. Frauen müssen raus aus der Teilzeit, dazu bedarf es der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Schaffung von besseren Karriere- und Verdienstchancen für Frauen sowie dem Abbau der Geschlechterklischees bei der Berufswahl.

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