Fußnote, die Glosse im Guller
Freund ist nicht gleich Freund

Zugegeben, ich fühlte mich sehr geschmeichelt. Immerhin bin ich neben seiner Kindergarten-Erzieherin die einzige Erwachsene, die sich bis dato in das Freundebuch unseres Nachbarsjungen eintragen durfte. Ansonsten finden sich darin ausschließlich seine gleichaltrigen Kameraden. Entsprechend gewissenhaft habe ich in dem Büchlein dann alle Fragen beantwortet: Wer mein Vorbild ist, ob ich lieber Salat oder Pommes mag und natürlich das gewünschte Foto eingeklebt.

Poesiealbum

In meiner Jugend gab es noch keine solchen Bücher, in denen sich die Freunde mit ihren Vorlieben und Träumen darstellten. Damals hatten wir Poesiealben. Darin durften sich Menschen, denen wir geneigt waren, mit erbaulichen Sprüchen verewigen wie: "Drei Engel mögen dich begleiten, in deiner ganzen Lebenszeit. Und die drei Engel, die ich meine, sind Liebe, Glück, Zufriedenheit." Okay, das klingt schwülstig, aber als Siebenjährige hat mir so etwas gefallen. Dazu gab es Bildchen mit Engelchen, Blümchen oder Marienkäfer. Nach dem Eintrag in das moderne Freundebuch habe ich mal wieder in das alte Album geschaut. Dabei habe ich für mich festgestellt, es wäre viel interessanter, nachlesen zu können, dass die heutige Inhaberin eines Tabakladens als Kind Krankenschwester werden wollte oder der Tiefbauingenieur in seiner Kindheit von einer Karriere als Astronaut träumte.

Facebook

Heute habe ich zu den wenigsten Personen aus meinem Poesiealbum noch Kontakt. Dafür kann ich 414 Freunde auf Facebook vorweisen, was vergleichsweise wenig ist. Daran bin ich aber wohl selbst schuld. Irgendwie widerstrebt es mir nämlich, Freundschaftsanfragen von Marineoffizieren aus Florida anzunehmen.
Allerdings lasse selbst ich mich manchmal auf mir unbekannte Menschen ein. Man möchte ja auch mal neue Leute kennenlernen. Wenn diese mir dann aber teure Wunderdiäten verkaufen wollen, ist immer schnell aus mit der Freundschaft. Eisverkäufer können da leichter punkten.

Willi Stächele

Da es sich bei den meisten meiner Kontakte auf Facebook eher um Bekannte handelt, ist die vorgegebene Bezeichnung Freunde ohnehin reichlich hoch gegriffen. Jedenfalls würde ich beispielsweise Willi Stächele eher nicht bitten, sich in mein Freundebuch einzutragen, obwohl ich ihn durchaus schätze. Es gibt halt einen Unterschied zwischen digitalen und analogen Freunden. Um so schöner ist es, noch solche Kumpels wie meinen jungen Nachbarn zu haben.
Anne-Marie Glaser

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