Fußnote, die Glosse im Guller
"Der kleine Prinz"

In einem herrscht sicher Einigkeit: Lesen bildet. Allerdings gibt es wohl konkrete Vorstellungen des vermeintlichen Bildungsbürgertums darüber, welche literarischen Werke jemand zwingend kennen muss. Wer diese nicht erfüllt, auf den wird gnadenlos mit dem Finger gezeigt. Das beweist der Fall der Anne-Marie G. aus Offenburg.

Antoine de Saint-Exupéry

Der Leidensweg dieser Frau begann mit einem Artikel über den Gengenbacher Adventskalender in einer Wochenzeitung, die Mittwochs erscheint. Anne-Marie G. ist Chefredakteurin dieser Zeitung und kritisierte in dieser Eigenschaft die geplante Überschrift besagten Artikels. Es war ein Zitat aus "Der kleine Prinz", dem Buch von Antoine de Saint-Exupéry, das Thema des diesjährigen Gengenbacher Adventskalenders. Da dieses Zitat im Artikel selbst nicht vorkam, war sie der Ansicht, dass die Überschrift für den Leser keinen Sinn ergab und verlangte eine Änderung. Die Verfasserin des Artikels stellte dagegen die Behauptung auf, jeder würde dieses Zitat kennen und deshalb den Zusammenhang herstellen. Eine spontane Umfrage ergab, dass tatsächliche alle anderen Redakteure und auch die Verlegerin "Der kleine Prinz" gelesen hatten, einer sogar im Originaltext in französischer Sprache.

Krieg und Frieden

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Von den Kollegen als literarischer Volltrottel verspottet, schlich sie traurig nach Hause und hoffte auf Trost von dem Mann, der mit ihr Tisch und Bett, aber nicht die Leidenschaft fürs Lesen teilt. Doch selbst er, ein Ingenieur, der normalerweise nur Fachliteratur liest, meinte: "Klar habe ich 'Der kleine Prinz' gelesen. Du etwa nicht?"
Seither wird Anne-Marie G. ungeniert als Literaturbanausin gehänselt. Dabei ist sie durchaus belesen, kennt sich in Werken von "Krieg und Frieden" bis "Conan der Barbar" bestens aus. Sogar durch "Faust II" hat sie sich durchgearbeitet.
Natürlich könnte sie leicht ihre kleine Wissenslücke schließen. Aber Anne-Marie G. möchte sich dem Druck nicht einfach beugen, sondern kämpft für die Rechte einer verfolgten Minderheit und wendet sich an die Öffentlichkeit. Wenn Antoine-de-Saint-Exupéry-Leser so gemein sind, wird das nämlich nie was mit dem Weltfrieden. Ihr Weihnachtswunsch ist deshalb: Toleranz mit den Menschen, die "Der kleine Prinz" nicht gelesen haben. In diesem Sinne allen ein friedliches Fest
Anne-Marie Glaser
PS: Ähnlichkeit von Name und Beruf zu Anne-Marie G. ist selbstverständlich reiner Zufall.

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