Blick in die Kehler Geschichte vor 65 Jahren
Am 8. April 1953 war die Stadt wieder deutsch

Am „Kreml“, der heutigen Geiger-Kreuzung, werden auch die Passierscheine der Deutschen kontrolliert. | Foto: Stadt Kehl
5Bilder
  • Am „Kreml“, der heutigen Geiger-Kreuzung, werden auch die Passierscheine der Deutschen kontrolliert.
  • Foto: Stadt Kehl
  • hochgeladen von Christina Großheim

Kehl (st). Mit einem Koffer in der linken und dem Kind an der rechten Hand: Als am 23. November 1944 gegen Ende des Zweiten Weltkriegs knapp 10.000 Menschen ihre Heimatstadt Kehl innerhalb von nur wenigen Stunden verlassen mussten, konnten sie nur mitnehmen, was sie tragen oder auf einen Handkarren packen konnten. Bis zum 8. April 1953 sollte es für einige von ihnen dauern, bis sie zurückkehren konnten. In der Zwischenzeit war Kehl eine rein französische Stadt: mit französischen Straßennamen, französischen Geschäften, französischen Schulen. Der Tag der Rückgabe des letzten Teilabschnitts der Stadt von Frankreich an Deutschland jährt sich heuer zum 65. Mal. „Uns ist es wichtig, dass so bedeutende Ereignisse der Stadtgeschichte nicht vergessen werden“, erklärt Archiv- und Museumsleiterin Ute Scherb.

23. November 1944: In Kehl beginnt der Tag wie jeder andere, die Menschen gehen zur Arbeit, manche fahren dafür über den Rhein nach Straßburg. Im Laufe des Vormittags gelingt es den Alliierten, Straßburg nach vierjähriger Besatzung durch die Deutschen zu befreien. Während ein französischer Soldat den Münsterturm erklimmt und dort die Trikolore aufpflanzt, zerrt die Gestapo in Kehl neun französische Widerstandskämpfer aus dem Gefängnis, schleppt sie ans Rheinufer, ermordet sie auf bestialische Weise und wirft ihre nackten Leichen in den Rhein.

Gleichzeitig drängt eine Menschenmasse über die Rheinbrücke nach Kehl. Das Artilleriefeuer aus Straßburg ist bis nach Kehl zu hören; am frühen Nachmittag werden der Kehler Bahnhof und der Kehler Hafen direkt beschossen. Die deutsche Polizei läuft wenig später durch die Innenstadt und klingelt an den Haustüren: Alle Kehler werden aufgefordert, ihre Stadt zu verlassen. Kehl steht unter französischem Beschuss.

Ohne zu ahnen, wie lange sie fort müssen und wohin sie gehen sollen, machen sich die Kehler Familien bei strömendem Regen meist zu Fuß auf den Weg aus der Stadt hinaus. Viele kommen bei Bekannten und Verwandten unter, die weiter von der Grenze entfernt wohnen, manch einer muss bei Fremden Unterschlupf suchen. Erst knapp einen Monat später ordnet die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt die Überführung in die Aufnahmestelle nach Überlingen am Bodensee an. Nach Kriegsende müssen die Geflüchteten Überlingen wieder verlassen und werden auf den damaligen Landkreis Kehl verteilt. Kehl selbst bleibt jedoch für die Bevölkerung unerreichbar, nur Sundheim und der Kronenhof sind seit April 1945 wieder zugänglich.

Nachdem Straßburg während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen besetzt worden war, hatte Hitler in der Folge Kehl zu einem Teil Straßburgs erklärt. Vor allem durch britisch-amerikanische Luftangriffe, nach der Befreiung Ende 1944 aber auch durch deutsche Bomber, waren in Straßburg zahlreiche Gebäude zerstört worden. Viele Kriegsheimkehrer und ehemals Evakuierte fanden ihre Wohnungen zertrümmert vor. So erstaunt es nicht, dass man in Straßburg auf den Gedanken kommt, eben diese Obdachlosen in Kehl unterzubringen. Grenzzäune werden errichtet, die ganze Stadt wird mit Stacheldraht umzäunt. Mit dem „rattachement administratif“, dem sogenannten Verwaltungsanschluss, vom 1. Mai 1946 wird Kehl auch verwaltungsmäßig zu einem Teil Straßburgs. Die Straßen erhalten neue Namen: Die Bierkellerstraße und die Friedrichstraße werden beispielsweise zur Rue de la Brasserie und zur Rue de la Renaissance. Die Adolf-Hitler-Straße wird zur Rue de commerce. Die Falkenhausenschule wird zu einer rein französischen Schule, es eröffnen französische Geschäfte. In der Stadt wird, wie eine französische Zeitzeugin berichtete, – im Gegensatz zu Straßburg – nur Französisch gesprochen; nicht Elsässisch.

Um Häuser oder Wohnungen in Kehl wieder herzurichten, fehlt den Franzosen Geld und Material. Die neuen Bewohner finden dort nicht die komplett eingerichteten Wohnungen vor, welche die Kehler zurückgelassen haben; diese waren direkt nach der Evakuierung bereits von deutschen und später auch von französischen Soldaten geplündert worden. Kehler dürfen in dieser Zeit ihre Stadt nur mit einem Passierschein betreten: Den „Laissez Passer pour le territoire de la Ville de Kehl“ erhalten nur Personen, die im Stadtgebiet arbeiten, zum Beispiel im Hafen, bei der Wasserversorgung oder als Haushaltshilfen in französischen Familien. Aber auch Passierscheininhaber müssen die Stadt abends wieder verlassen.

Erst das Washingtoner Abkommen vom 8. April 1949 sichert den Deutschen die etappenweise Rückgabe ihrer Stadt zu. Es wird eine Rückgabe innerhalb von vier Jahren vereinbart. Dies lässt den Franzosen die Chance, in Straßburg Wohnraum für die rund 7.000 in Kehl lebenden Heimkehrer zu schaffen. Im Eiltempo werden dort in der sogenannten Cité de Rotterdam Hochhäuser hochgezogen, die heute noch stehen und inzwischen saniert worden sind oder gerade modernisiert werden. Für die französischen Kehler, die sich in Kehl wohlfühlen, die glauben, eine neue Heimat gefunden zu haben, ist die Vereinbarung im Washingtoner Abkommen ein Schock.

Für die nach und nach heimkehrenden Kehler ist der Zustand ihrer Häuser ein ebensolcher: Manche sind komplett abgetragen, weil, was von ihnen übrig war, in Kehl oder auch in Frankreich als Baumaterial verwendet worden war. Die Wohnungen sind verwohnt, dort, wo das Erdgeschoss nicht mehr intakt war, hatten die französischen Bewohner nicht selten ihre Nutztiere, wie Hühner und Ziegen, gehalten. Die Wohnungen sind abgewohnt und in der Regel so gut wie leer. Einen wirklichen Plan zum Wiederaufbau hat auch die Stadtverwaltung nicht; gemeinsam versucht man nach jeder der insgesamt 42 Teilrückgaben, die Stadt so rasch wie möglich wieder bewohnbar zu machen. „Das hat Spuren hinterlassen und lässt sich bis heute in der Innenstadt ablesen“, sagt Ute Scherb.

Beginnend im Süden in nordwestliche Richtung bis zur Rheinbrücke wird am 29. Juli 1949 das erste Gebiet, die Sölling-Siedlung, freigegeben. Im Westen hingegen ist Kehl weiterhin eine französische Stadt, die Stück für Stück kleiner wird. Straßenzug um Straßenzug wird der das deutsche vom französischen Kehl hermetisch abtrennende Stacheldraht in Richtung Rhein versetzt. Genau vier Jahre später, am 8. April 1953, wird der letzte Grenzzaun entfernt und Kehl liegt nach achtjähriger Besatzung endgültig wieder in Händen einer deutschen Verwaltung. Für die einen ist es eine langersehnte Heimkehr, für die anderen ein tragischer Abschied.

Info: Die Zeitzeugen-AG am Kehler Einstein-Gymnasium hat, in Zusammenarbeit mit dem Hanauer Museum und mit Unterstützung des Fördervereins Einstein-Gymnasium, des Historischen Vereins Kehl und des Kulturbüros der Stadt, wichtige Ereignisse rund um die Geschichte Kehls in einer dreiteiligen CD-Reihe festgehalten, von der bislang zwei Teile erschienen sind. Auch über die Zeit von der Flucht 1944 bis zur Freigabe 1953 gibt es eine Hörcollage, die für acht Euro im Hanauer Museum erhältlich ist, heißt es in einer Pressemitteilung der Stadtverwaltung.
Der Radiosender SWR sendet am Montag, 9. April, zwischen 12.30 Uhr und 13 Uhr eine vierminütige Reportage von Clarissa Herrmann über die Rückgabe Kehls.

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.