Fussnote
Rosinenpicken im Euro-Land

Die EU-Kommission will gemeinsame soziale Standards. Au ja, das ist toll. Dann schauen wir doch mal, was die EU-Mitgliedstaaten denn so im Angebot haben. Ich möchte gerne mit 60 in Rente gehen, wie das in Frankreich gesetzlich geregelt ist. Was den Lohn anbelangt, sollten wir uns an Dänemark orientieren. Dort verdienen Arbeitnehmer nämlich am meisten. In Bezug auf die Wochenarbeitszeit gefallen mir die 37,8 Stunden in Finnland am besten. Hinsichtlich des Urlaubsanspruchs soll angeblich Deutschland ganz gut dastehen. Steuertechnisch scheint mir Polen interessant oder auch die Slowakei. Wenn es um die Umsatzsteuer geht, ist aber wahrscheinlich Luxemburg vorteilhafter. Am wenigsten Lohnnebenkosten sollen in Malta fällig sein. Würden die Standards so aussehen, wäre ich sofort dafür.
Ob Väter bei der Geburt eines Kindes elf Tage Urlaub bekommen, liegt mir als 50-Jährige dagegen naturgemäß weniger am Herzen. Sollte der Mann, mit dem ich Tisch und Bett, aber keinen Kinderwunsch mehr teile, noch einmal Vater werden, gönne ich ihm ganz bestimmt keinen schönen Urlaub.
Wer meine Sichtweise als egoistisch empfindet, hat völlig recht. Aber seit wann geht es denn bei der EU bitte um Altruismus? Okay, der Grundgedanke bei der Gründung war Friedenssicherung. Das klingt nach Idealismus, ist aber pragmatisch. Ich habe schon aus purem Eigennutz kein Interesse daran, mich ständig mit meinen Nachbarn zu klopfen. Die Energie investiere ich doch lieber in andere Dinge. Zum Beispiel lässt sie sich zum Geldverdienen nutzen. So ist der freie Warenverkehr innerhalb der EU für Exportweltmeister Deutschland bares Geld wert. Oder nehmen wir das Dubliner Übereinkommen, das dafür sorgt, dass Flüchtlinge erst einmal bleiben, wo sie in Europa ankommen, also in so schönen Ländern wie Italien oder Griechenland. Dafür müssen wir halt ordentlich Geld an die EU oder an einzelne Partnerländer abführen. Aber offensichtlich rechnet sich das Ganze unterm Strich. Sonst würden wir es nicht tun.
Andere profitieren von ihrer Mitgliedschaft durch sprudelnde Fördergelder. Die werden von allen gerne genommen. Da hält sogar Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gerne die Hand auf. Aber alles hat seinen Preis. Manchmal ist der nicht in Euro und Cent zu berappen. Da geht es dann eher darum, sich beispielsweise bestimmte Hochschulgesetze zu verkneifen, die nicht mit europäischem Recht zu vereinbaren sind. Viktor Orbán interpretiert den Wahlspruch der EU "In Vielfalt geeint" wohl eher in die Richtung: Jedes Land macht, was es will und nimmt sich, was ihm gefällt. Er ist nicht der einzige. Anne-Marie Glaser

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