Die Glosse im Guller
Die große Sehnsucht nach der guten alten Zeit

Wer hätte das gedacht! Laut einer Umfrage für die Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen würden 56 Prozent der Erwachsenen im Alter bis 34 viel lieber in der Vergangenheit leben. Begründet wird dies unter anderem damit, dass die Menschen früher stärker zusammengehalten hätten und es weniger Krisen gegeben habe.
2013 sagten das in dieser Altersstufe gerade 30 Prozent. Bei den über 55-Jährigen, zu denen auch ich gehöre, sehnten sich 2013 70 Prozent nach der guten alten Zeit. Heute sind es nur noch 68, also zwei Prozent weniger. Ich kann mir gut vorstellen, wer für den Rückgang verantwortlich ist. Keiner, der in meiner Grundschulklasse war, möchte die Zeit zurückdrehen.

36 Kinder in einer Klasse

Wir waren damals 36 Kinder, die gemeinsam in einer Klasse unterrichtet wurden, und hatten ein ganzes langes Schuljahr nicht einmal ein festes Klassenzimmer. Als sogenannte Wanderklasse vagabundierten wir durch das Schulgebäude. Der Zusammenhalt war schon stark, allerdings der nackten Angst geschuldet. Wer nicht in der Gruppe blieb, setzte sich beim Zimmerwechsel der Gefahr aus, verloren zu gehen und alleine herumzuirren. Okay, ich übertreibe, es gab einen festen Plan, wo wir wann zu sein hatten und im schlimmsten Fall hätten wir im Sekretariat nachfragen können. Ätzend war es trotzdem.
Heute wäre so etwas undenkbar. Der Kinderschutzbund würde intervenieren, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Zeter und Mordio schreien und empörte Eltern gewiss einen SUV-Protest-Korso mit Hupkonzert vor dem Kultusministerium organisieren.

RAF, Tschernobyl und Berliner Mauer

Ach, die gute alte Zeit mit ihren geburtenstarken Jahrgängen! Als auf jede freie Ausbildungsstelle 80 Bewerber kamen. Manche Schülerin wäre gerne Krankenschwester geworden. Mangels Ausbildungsplatz machte sie dann halt Abitur, studierte auf Lehramt und war froh, als arbeitslose Mathelehrerin wenigstens ein paar private Nachhilfestunden geben zu können. Ui, und so richtig Nostalgie kommt bei mir auf, wenn ich an RAF-Terroristen, Tschernobyl-Katastrophe, Berliner Mauer, Todesstreifen, Wettrüsten denke. Nicht zu vergessen, als US-Militärs in den 80er-Jahren darüber nachdachten, wie sie einen Atomkrieg auf Europa begrenzen könnten.
Klar, auch ich mache mir Sorgen über die Zukunft. Aber zurück in die Vergangenheit sehne ich mich bestimmt nicht. Dafür erinnere mich noch zu gut, wie es da war.
Anne-Marie Glaser

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