Angedacht: Gerhard Bernauer
Heiligkeit geht nicht ohne Menschlichkeit

Gerhard Bernauer | Foto: privat

Vor einigen Tagen hat mich ein lieber Kollege zu einer Tageswanderung eingeladen. Auf dem Weg zum Scheuerberg mitten durch die Rebberge über dem Neckartal entdecken wir einen alten Bildstock, in den der Text „menschlich-heilig sollt ihr mir sein“ eingraviert ist und der sich wie ein Gottesspruch liest. Darunter der Hinweis auf eine Bibelstelle „Exodus 22,31“. Wir beide – durchaus mit biblischen Texten vertraut – gestehen uns gegenseitig, einen solchen Text noch nie in der Heiligen Schrift gelesen zu haben.

Verdutzte Feststellung beim Blick in die Bibel

Wieder zu Hause, schlage ich die Stelle nach und stelle verdutzt fest, dass es sie nicht gibt. Das Kapitel 22 aus dem 2. Buch Mose endet mit Vers 30. Hat da jemand einen neuen Bibelvers dazugesetzt oder ihn mit einem anderen verwechselt? Vielleicht wollte er damit einfach sagen: Heiligkeit geht nicht ohne Menschlichkeit und Menschlichkeit geht mit göttlicher Gnade besser.

Papst Franziskus muss es ähnlich empfinden, wenn er in einem Büchlein über die Heiligkeit in der Welt von heute eine lebensferne Frömmigkeit oder aufgesetzte Heiligenscheine oder religiöse Sonderwelten ablehnt. Ihm geht es um den Alltag und so schreibt er gleich zu Beginn: „Vielleicht sind unter den Heiligen unsere eigene Mutter, eine Großmutter oder andere Menschen, die uns nahestehen; oft ist das die Heiligkeit 'von nebenan', also Menschen, die in unserer Nähe wohnen und ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind.“

Die gelebte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe – und das mitten im Alltag: nicht heldenhaft, sondern in banalen Zeichen gütiger Zuwendung und aktiver Solidarität. Eben wie es in den Bildstock sehr biblisch eingraviert ist: „menschlich-heilig“.
Gerhard Bernauer, Pfarrer i. R., Offenburg

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