Fußnote – die Glosse im Guller
Gemeinsame Veranlagung

Es gibt Menschen, bei denen ist es an Silvester Tradition, um Mitternacht zum Finanzamt zu pilgern. Kaum ist der zwölfte Glockenschlag verhallt, liegt ihre Steuererklärung im Briefkasten. In Zeiten von Elster können sie die Daten natürlich auch einfach per Knopfdruck am Computer übermitteln. Während andere beim Countdown schon mal die Sektkorken lockern, kreisen deren Zeigefinger vor Vorfreude zuckend über der Tastatur. Denn sie wissen schon jetzt, der Fiskus wird ihnen 2,36 Euro überweisen.

Vor sehr vielen Jahren lernte ich bei einer Silvesterparty mal einen jungen Mann kennen. Er bekam auf Wunsch meine Telefonnummer und rief mich am Neujahrstag auch an, um sich mit mir zu verabreden. Er wollte mich zum Essen einladen. Vielleicht wäre es ein wirklich schöner Abend geworden und ich hätte mich unsterblich verliebt. Aber ich bezweifle es. Tatsächlich gab ich ihm keine Chance mehr, nachdem er am Telefon erklärte, er wollte vor dem Treffen noch schnell seine Steuererklärung machen. Es heißt zwar, Gegensätze ziehen sich an. Aber in diesem Fall war die Kluft einfach zu tief. Denn ich gehöre zu der Fraktion, die mit einem tiefen Seufzen am 31. Mai um 23.59 Uhr, also im wahrsten Sinne des Wortes in allerletzter Minute, den Schlusspunkt unter die Steuererklärung setzt. Und weil ich weiß, dass es völlig unsinnig ist, bis auf den letzten Drücker damit zu warten, kann ich eins ganz gewiss nicht gebrauchen: Jemand, der mir das unter die Nase reibt, indem er mit gutem Beispiel vorangeht.

Der Mann, mit dem ich heute Tisch und Bett sowie die eine oder andere schlechte Angewohnheit teile, passt steuererklärungsabgabetechnisch ideal zu mir. Wir reden hier also von einer gemeinsamen Veranlagung im doppelten Wortsinn. Ich habe schon im ganzen Haus die Fenster geputzt, nur um den Zeitpunkt des Formularausfüllens noch etwas herauszuzögern. Er stand daneben und hat den Wassereimer gehalten. Natürlich hätte der Gute auch selbst zum Putzlappen greifen können. Aber dann wären wir viel schneller fertig geworden, was nicht Sinn der Aktion war.

Bei anderen Leuten mag der Frühjahrsputz vor Ostern erledigt werden. Unser Stichtag ist der 31. Mai. Natürlich schwören wir uns alle Jahre wieder: Das nächste Mal wird alles anders. Zumal mein Part der Steuererklärung ruckzuck erledigt ist, wenn ich mich denn mal dransetze. Es gibt also wirklich keinen Grund, sich so anzustellen. Meine bessere Hälfte mag aber gerade das an mir. So lange ich das Ganze vor mich herschiebe, kann er das nämlich auch tun.
Anne-Marie Glaser

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