Trotz großer Sorge
Fawzia und Sabahat machen afghanischen Frauen Mut

Fawzia (l.) und Sabahat Khanjare sind sehr froh über die Unterstützung der städtischen Integrationsmanagerin Marlene Ofner. | Foto: Stadt Kehl
  • Fawzia (l.) und Sabahat Khanjare sind sehr froh über die Unterstützung der städtischen Integrationsmanagerin Marlene Ofner.
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Kehl (st). 170 Geflüchtete aus Afghanistan leben in Kehl – mehr als in jeder anderen Stadt in der Ortenau, wo der Anteil der afghanischen Staatsangehörigen an der Gesamtzahl der Geflüchteten bei 9,3 Prozent liegt. Seit die Taliban begonnen haben, eine Provinz nach der anderen einzunehmen und nun auch Kabul unter ihre Herrschaft gebracht haben, sind die Familien in großer Sorge: Alle haben Angehörige oder Freunde im Land, viele wenden sich hilfesuchend ans städtische Team Integrationsmanagement.

Geschwister verstecken sich im Keller

Dass ihre Geschwister mit ihren Familien eine Chance bekommen werden, sich nach Europa zu retten, hält Fawzia Khanjare für nahezu ausgeschlossen: „Sie verstecken sich in einem Keller“, berichtet die 46-Jährige. Wenn sie telefonieren können, „machen sie alles zu, damit niemand sie hört oder sieht“.

Ihr Mann, Habib Rahman, erhielt in Afghanistan Morddrohungen. Immer wieder haben sie die Botschaften der Taliban vor ihrem Haus in Maimana in der Provinz Faryab im Norden Afghanistans gefunden, berichtet Fawzia: „Wir holen deine Frau und deine Kinder.“ Habib Rahman arbeitete bei der afghanischen Polizei, war Drogenfahnder. Fawzia hat vier Jahre lang studiert; sie ist Lehrerin. Ihren Beruf konnte sie nur unter großen Schwierigkeiten ausüben: Mehr als zweimal pro Woche hat sie es nicht gewagt, in der Mädchenschule zu unterrichten.

„Wir hatten ein schönes Haus“, sagt sie, „ein Auto“. 2015 haben sie dennoch alles zurückgelassen und sind geflohen. Aus Angst um ihr Leben und das ihrer fünf Kinder. Das Ehepaar engagierte sich in einer Partei, die sich für die Demokratisierung des Landes einsetzte. Bei der Anhörung in München, habe ihnen eine Beamtin „ein schönes Leben“ gewünscht, erinnert sich Fawzia. Alle Familienmitglieder haben eine Aufenthaltsgenehmigung; Sabahat, vor wenigen Tagen 18 geworden, holt stolz ihren Ausweis heraus.

Fawzia fällt es schwer, über die Flucht zu sprechen. Mit dem Flugzeug ging es in den Iran, von dort zu Fuß in die Türkei – Tochter Sabahat war gerade 13 Jahre alt. Als sie versuchten, mit einem Boot von der Türkei nach Griechenland überzusetzen, schlug das Boot mitten in der Nacht Leck und sank. Von den 80 Insassen überlebten nur zwölf. Zwei Stunden lang hätten sie im Meer getrieben, erzählt die 46-Jährige. Ein griechisches Schiff sei weitergefahren, ohne sie aufzunehmen, weil sie sich in türkischem Gewässer befanden. Am Ufer holte jemand Hilfe; Fawzia und ihre Familie wurden gerettet. „Es war zwei Uhr nachts“; die Uhrzeit hat sich in Fawzias Gedächtnis eingebrannt. Trotz des Schiffbruchs wagte die Familie einen zweiten Versuch: „Lieber tot als zurück nach Afghanistan“, sagt Fawzia und schaudert. Vor eineinhalb Jahren wurde ihr Bruder in Masar-i-Scharif auf offener Straße von einem Taliban vor den Augen seiner Kinder erschossen.

„Meine Mutter ist stark“, sagt Sabahat, die inzwischen ihren Hauptschulabschluss gemacht hat und flüssig Deutsch spricht. In Afghanistan konnte sie nur ein- bis zweimal pro Woche in die Mädchenschule gehen. Sie träumt davon, Kieferorthopädin zu werden und sucht derzeit einen Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin. Bis sie einen gefunden hat, arbeitet sie im Schichtdienst bei Zalando. Wie ihre Mutter und ihr Vater. Nichts zu tun, ist für Sabahat keine Option.

Jeden Tag hört die Familie deutsche und afghanische Nachrichten. Die 18-Jährige macht sich große Sorgen, nicht nur um ihre Freundinnen in Afghanistan, sondern „um alle Frauen und Mädchen“. Sie würde so gerne helfen – wenn sie nur wüsste wie. „Wir wollen uns nicht verstecken“, bricht es aus ihr heraus, „wir wollen den Frauen und Mädchen Mut machen, dass sie nicht aufgeben, dass sie versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen“. Sie bitte die Vereinten Nationen, in Afghanistan zu helfen. „Wir leben in Deutschland in Sicherheit“, sagt Sabahat, „und in Freiheit“, ergänzt Fawzia. „Das ist so wichtig.“ „In Afghanistan gibt es keine Sicherheit für Mädchen“, bedauert Sabahat. „Frauen haben dort keine Rechte.“ Mutter und Tochter sind dankbar, dass sie in Deutschland, in Kehl, eine neue Heimat gefunden haben. Dass sie alleine das Haus verlassen können, sich nicht verschleiern müssen. Und dass sie bei Integrationsmanagerin Marlene Ofner Unterstützung finden.

Vor einem halben Jahr sind zwei Neffen von Habib Rahman, die in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet haben, mit ihren Familien nach Deutschland geholt worden. „Das war brutal nett von den Deutschen“, findet Sabahat. „Die Deutschen haben uns immer geholfen; sie haben uns nie im Stich gelassen.“

Hintergrund

So wie die Familie Khanjare sorgen sich auch die anderen in Kehl lebenden Geflüchteten aus Afghanistan um Freunde und Angehörige, seit sich die Situation in ihrer Heimat von Tag zu Tag verschlimmert. Bei Marlene Ofner und ihren Kolleginnen Tamina Braunewell, Johanna Bung, Svenja Gerbendorf und Integrationsmanager Fares Musa haben sich innerhalb weniger Tage sechs Familien gemeldet, die großen Gesprächsbedarf haben.

Alle haben Angst um Angehörige und Freunde – die Ereignisse lassen bei den hier lebenden Afghanen Traumata wieder aufbrechen. Zwei Familien haben sich bereits mit der Frage ans Integrationsmanagement gewandt, ob es nicht möglich sei, dass sie ihre Familien nach Deutschland holen könnten. Andere stehen unter Schock, weil Familienmitglieder bereits von den Taliban ermordet wurden oder sich auf der Flucht befinden.
Das Team des Integrationsmanagements versucht derzeit über die Vernetzung mit anderen Hilfsorganisationen herauszufinden, welche Hilfsangebote und -programme es gibt, um die Familien in ihrer Not zu unterstützen.

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