Plakate aus dem Jahr 1930 in Kehl aufgetaucht
Widerstand gegen die Nationalsozialisten

Edith Waffenschmidt und Ute Scherb mit dem SPD-Plakat aus dem Jahr 1930. | Foto: Stadt Kehl
  • Edith Waffenschmidt und Ute Scherb mit dem SPD-Plakat aus dem Jahr 1930.
  • Foto: Stadt Kehl
  • hochgeladen von Daniela Santo

Kehl (st). "107 Nazis schützen das Großkapital." "Lasst euch nicht irreführen, arbeitende Volksgenossen." Mit diesen Slogans versuchte die SPD im Jahr 1930, die Kehler vor den Nationalsozialisten zu warnen, die einen wachsenden Zuspruch in der Bevölkerung erfuhren. Mehrere Hundert Flugblätter und fünf Plakate mit derlei Parolen sind nun in den Besitz des Hanauer Museums übergegangen – sie sind einige der raren Dokumente, die Auskunft geben über die Zeit der Weimarer Republik in Kehl.

Die Plakate und Flugblätter zeugen vom Aufbäumen der etablierten sozialdemokratischen Kräfte gegen die wachsende Macht der Nationalsozialisten in Kehl. Von 1919 an hatten die Parteien der Weimarer Koalition – die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die katholische Zentrumspartei und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) – den stärksten Einfluss in Kehl gehabt. Im Jahr 1930 kam der Umbruch: Bei der Gemeinderatswahl im Dezember gewann die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) fünf von 13 Mandaten – vorher hatte sie keinen einzigen Sitz in dem Gremium besetzt. Fortan stellte sie die stärkste Fraktion.

Mit ihrer Wahlentscheidung folgten viele Kehlerinnen und Kehler dem Trend der Reichstagswahl am 14. September 1930, bei der die NSDAP deutschlandweit einen Aufschwung erlebte: Sie konnte 18,3 Prozent der Stimmen einholen – das entsprach einer Steigerung um ganze 15 Prozent. Fortan stellte sie im Reichstag 107 Abgeordnete und war damit hinter der SPD die zweitstärkste Fraktion.

Auf diese Wahl und eine darauf folgende Sitzung des Reichstags im Dezember nehmen die Plakate und Flugblätter der badischen SPD, die aus dem Winter 1930 stammen, Bezug: Der Slogan "107 Nazis schützen das Großkapital" spielt darauf an, dass die Vertreter der NSDAP in der Reichstagssitzung gegen die Einführung einer Steuer für besonders Vermögende gestimmt hatten. Dies entlarve die Nationalsozialisten einmal mehr als Heuchler, betonte die SPD auf ihren Flugblättern und Plakaten: "Ruft es den Arbeitern und proletarischen Angehörigen des Mittelstandes, die die Nazis ‚sozialistisch‘ einzuwickeln versuchen, immer und immer wieder in die Ohren: Niemand hat Grund, den National-'Sozialisten' sozialistische Tendenzen vorzuwerfen! Sie sind Fleisch vom Fleische der kapitalistischen Gesellschaft."

Doch allen Warnungen zum Trotz: Den weiteren Machtgewinn der Nationalsozialisten konnten die Kehler SPD-ler nicht verhindern. Nach und nach unterwanderte die NSDAP die noch junge Demokratie und entledigte sich unliebsamer Führungskräfte. Im Frühjahr 1933 veranlasste sie im Gemeinderat ein Misstrauensvotum gegen den damaligen Bürgermeister Dr. Hans Luthmer; er kam in Schutzhaft, dann wurde er in den Ruhestand versetzt. Wie ihm erging es vielen weiteren Politikern und auch jüdischen Geschäftsleuten, Beamten und Angestellten. Sie wurden aus ihrem Beruf verdrängt, verfolgt und häufig verhaftet.

Auch der Sozialdemokrat Johann Huck geriet wegen seiner politischen Aktivitäten ins Visier der Nationalsozialisten. 1894 geboren, verdiente er sich sein Brot als Landwirt und engagierte sich in der SPD. An der Flugblatt- und Plakataktion Ende 1930 war der Willstätter maßgeblich beteiligt. Alles, was nicht verteilt wurde, versteckte er sorgsam vor den Nazis – wohl ahnend, dass diese sämtliche Schriftstücke vernichten würden, welche eine andere Gesinnung als die ihre widerspiegelten oder ihre Machenschaften gar gezielt an den Pranger stellten. Auch Johann Huck selbst wollten die Parteifunktionäre aus dem Weg räumen; zweimal musste er in der Nazi-Zeit aus seiner Heimat fliehen. Der Sozialdemokrat hatte Glück und überlebte den Nationalsozialismus, 1975 starb er im Alter von 81 Jahren.

Seinen Nachfahren hatte er zu seinen Lebzeiten nichts von den Plakaten und Flugblättern erzählt, die in einem Karton im Haus seiner Schwester lagerten. Seine Schwester Elisabetha Kirchhofer, geborene Huck, gab Acht, dass der Karton nicht entdeckt wurde, während ihr Bruder nicht da war. Ihr und Johann Hucks Enkelin Edith Waffenschmidt ist es zu verdanken, dass die historisch wertvollen Dokumente nicht in der Versenkung verschwunden sind. Edith Waffenschmidt fand besagten Karton vor zehn Jahren in dem Haus ihrer Großtante, das sie geerbt hatte. Auf dem Dachboden lagerte er zwischen allerlei anderen Habseligkeiten und beinhaltete neben Flugblättern und Plakaten auch sorgsam zusammengebundene Haarbüschel, die wahrscheinlich von Elisabetha Kirchhofer stammen – Haare waren in der Kriegszeit ein wertvolles Gut.

Was sie mit den Dokumenten anfangen sollte, die sie in ihrem neuen Wohnhaus gefunden hatte, wusste Edith Waffenschmidt anfangs nicht so recht. Erst zehn Jahre nach dem Fund traf sie die Entscheidung, ihn dem Hanauer Museum zu übergeben – zur Freude von Museums- und Archivleiterin Ute Scherb.

"Es ist heute so schwierig, gerade hier in Kehl die Zeit der Weimarer Republik zu fassen", betont die Historikerin, wie wertvoll ein weiteres Puzzlestück zur Rekonstruktion der damaligen Gegebenheiten ist. Andere Zeugnisse aus der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sind etwa Standesamtsunterlagen, Fotos und Adressbücher, Notgeldscheine und Werbeartikel für verschiedene Produkte sowie ein einziger Zeitungsband aus dem Jahr 1921. Die wenigen erhalten gebliebenen Unterlagen im Stadtarchiv und im Landesarchiv belegen vor allem die Schwierigkeiten, die sich aus der französischen Besatzung ergaben.

Im Januar 1919 besetzten die Truppen die Stadt und kontrollierten bis 1930 nicht nur den Hafen, sondern das gesamte Wirtschaftsleben ebenso wie die Kommunalpolitik und den Alltag der Menschen. Dem Kehler Museum liegen Beschwerdebriefe von Geschäftsleuten vor, die unter den Einschränkungen der französischen Besatzer litten, Schriftwechsel, in denen von Verhaftungen wegen kleinerer Vergehen, wie dem Nichteinhalten der Sperrstunde, die Rede war oder von Offiziersfamilien, die Häuser von Kehlern beschlagnahmten, um dort zu wohnen. Andere Bürger wollten zwischen den Fremden und den Bewohnern der Stadt vermitteln: Der Kehler Werneke-Verlag publizierte von 1926 an Zeitschriften und Bücher, die versuchten, Deutschen die französische Kultur nahezubringen.

In der Besatzung Kehls sieht Museums- und Archivleiterin Ute Scherb eine Ursache für den großen Zuspruch, den die NSDAP in der Kehler Bevölkerung erfuhr. "Die Nationalsozialisten versprachen den Bürgern die Wiedererlangung eines Selbstbewusstseins, das sie unter der Besatzung verloren hatten", sagt sie. Ein weiterer Grund für den Erfolg der NSDAP – in Kehl wie in ganz Deutschland – sei die Weltwirtschaftskrise gewesen, die durch den New Yorker Börsencrash im Jahr 1929 ausgelöst wurde. Viele Firmen machten Bankrott, die Arbeitslosigkeit stieg. Eine gefährliche Kombination, die den Nationalsozialisten in die Hände gespielt hat – denn sie versprachen Besserung, vor allem für den Mittelstand und die ärmere Bevölkerung.

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.