Fußnote
Petzen und Kronzeugen

Petzen war in meiner Kindheit absolut verpönt. Wer petzte, manövrierte sich im Kindergarten oder in der Schule ins Abseits, wurde fortan geächtet und stand auf der gleichen Stufe wie Tierquäler oder Autolackzerkratzer. Selbst Erziehungsberechtigte verzogen angewidert das Gesicht.

Im Laufe meines Lebens lernte ich dann: Was gesellschaftlich sanktioniert wird, kann seitens des Staates durchaus mit Wohlwollen gesehen, gefordert und sogar belohnt werden. Das sieht man fast jede Woche auch auf unserer Titelseite. Wenn die Polizei nach Zeugen eines Vorfalls sucht, ist das nämlich strenggenommen eine öffentliche Aufforderung zum Petzen. In Gerichtsverhandlungen besteht sogar eine Petz-Pflicht. Dieser können sich nur Verwandte und höchstens Verlobte entziehen. Die Zugehörigkeit zu einer Mafiafamilie alleine begründet dagegen kein Aussageverweigerungsrecht im Sinne des deutschen Strafgesetzbuchs. Wer kein richterlich anerkanntes Verwandtschaftsverhältnis aufweisen kann, hat im Fall der Fälle die Qual der Wahl. Entweder folgt er der Omertà, also dem Gesetz des Schweigens, das auch ein striktes Petz-Verbot gegenüber Behörden beinhaltet. Oder er kommt seiner staatsbürgerlichen Pflicht nach, was angeblich in Mafiakreisen mit der Todesstrafe geahndet wird.

Um das Petzen in kriminellen Kreisen etwas populärer zu machen, gibt es die Kronzeugenregelung. Böse Buben und Mädels, die ihre Taten gestehen und ihre Komplizen verpfeifen, werden dabei mit Strafnachlässen belohnt. Wichtig ist es, Erster zu sein. Bei den deutschen Autobauern sitzen natürlich keine bösen Buben und Mädels. Trotzdem sollen VW und Daimler Selbstanzeige erstattet haben, weil die eine oder andere Absprache auch mit weiteren Konzernen möglicherweise doch ein klitzekleines bisschen die komplizierten Verbote versehentlich verletzt haben könnte. Kronzeuge kann aber nur einer sein und Daimler hat das Rennen wohl gewonnen.

Bevor wieder jemandem vor Empörung das Frühstücksbrötchen im Hals stecken bleibt, sei klargestellt: Wie so oft an dieser Stelle überspitze ich maßlos. Selbstverständlich gibt es einen Unterschied zwischen Verpetzen von nichtigen kindlichen Verfehlungen und der Zeugenaussage bei einer Straftat. Auch fahre ich weiter mein deutsches Auto, weil ich es gut finde. Gar nicht gut, sondern ausgesprochen unsympathisch finde ich aber Kronzeugengeschachere.
Anne-Marie Glaser

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