Die Glosse im Guller
Etwas anders als ursprünglich von mir erwartet

Anne-Marie Glaser nach dem Neun-Euro-Trip nach Usingen wieder zurück in Offenburg | Foto: ag
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Ehrenwort, ich war durchaus bereit, einen Verriss zu schreiben. Genüsslich wollte ich mich in Vorurteilen suhlen und süffisant deren Wahrheitsgehalt beweisen. Aber wie das Leben so spielt, gibt die Realität das nicht her. Und allen Lügen-Presse-Gerüchten zum Trotz fühle ich mich als Journalistin halt der Wahrheit verpflichtet. Deshalb muss ich an dieser Stelle eine Warnung aussprechen: Alle Die-Welt-ist-schrecklich-Anhänger und Das-Glas-ist-halb-leer-Befürworter sollten nicht weiterlesen. Denn das Fazit meiner Reise mit dem Neun-Euro-Ticket an Pfingsten nach Usingen wird ihnen nicht gefallen.

Usingen im Taunus

Wem Usingen nichts sagt, der muss sich keineswegs genieren. Es liegt im hessischen Taunus und wartet noch auf sein Coming-out als touristischer Hotspot der Zukunft. Ich fuhr nur deshalb hin, um jemanden zu besuchen. Nun weiß eigentlich jeder, dass Pfingsten in Deutschland eine sehr beliebte Reisezeit ist. Eine versierte Weltenbummlerin wie ich plant deshalb entsprechend. Der eine oder andere wird es vielleicht vergangene Woche in dieser Zeitung gelesen haben: Start in Offenburg war um drei Viertel fünf morgens, Ankunft um halb elf, die Reise völlig entspannt, weil die Nahverkehrszüge erwartungsgemäß um diese Zeit selbst an Pfingsten noch relativ leer sind. Also alles richtig gemacht, nur sehen Abenteuer-Reportagen halt anders aus. Wäre ich für meinen Test mal besser nach Sylt gefahren.

Ungeheure Menschenmassen

Ein anderes Bild an Pfingstmontag auf der Rückfahrt in der Mittagszeit: Ungeheure Menschenmassen und ich saßen erst einmal fernab der Heimat 40 Minuten fest, weil verspätete ICE für Chaos sorgten. Würde ich nun die negativen Eindrücke sammeln können, die ich insgeheim bei meinem Neun-Euro-Trip erwartet hatte?
Tatsächlich waren die Nahverkehrszüge extrem überfüllt. Aber es gab wenig böses Geschubse, dafür viele höfliche Entschuldigungen. Die Fahrgäste achteten darauf, dass Kinder nicht versehentlich erdrückt wurden und auch ein Herr seinen schönen Blumenstrauß unbeschadet transportieren konnte. Ein Jugendlicher, den ich vom Aussehen und der Sprache her in die Gangster-Rapper-Szene verorten würde, bot einer älteren Dame seinen Sitzplatz an.
Nein, die Reise hat mich nicht zum Bahnfan gemacht. Aber ich bin freudig überrascht, wie zivilisiert es bei allem Stress zugegangen ist. Sollte ich jemals an unserer Gesellschaft zweifeln, kaufe ich mir wieder an Pfingsten ein Billigzugticket.
Anne-Marie Glaser

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