Fussnote - Die Glosse im Guller
Es geht um mehr Freizeit

Da schau sich doch einer die IG Metall an. Was hat diese Gewerkschaft doch für pfiffige Ideen! Arbeitnehmer sollen den Anspruch bekommen, ihre Arbeitszeit bis zu zwei Jahren auf eine 28-Stunden-Woche zu reduzieren. Verraten Sie es nicht meinen Kollegen, aber das könnte mir für mich durchaus auch gefallen.

Okay, meine Tochter ist inzwischen erwachsen und glücklicherweise sind weder mein Mann noch meine Mutter pflegebedürftig. Aber etwas mehr Zeit nur für mich wäre schon schön. Da hätte ich endlich die Muse für ein interessantes Hobby – etwas Kreatives, das die Welt schöner macht. Beispielsweise könnte ich Geschirrtücher mit bezaubernden Borten umhäkeln oder unsere doch etwas langweiligen Kaffeetassen mit witzigen Wackelaugen bekleben. Es gibt so viele tolle Freizeitbeschäftigungen, für die mir schlicht die Zeit fehlt, weil ich von morgens bis abends Leute interviewe, Veranstaltungen besuche oder bissige Glossen schreibe.

Tatsächlich scheint es absolut nicht mehr zeitgemäß, den ganzen Tag nur für den schnöden Mammon zu malochen. Moderne Menschen bevorzugen es statt dessen, sich Freizeitstress zu kaufen. Schon Schüler finden es heute oft völlig abwegig, sich beispielsweise durch das Austragen von Zeitungen ein Taschengeld zu verdienen. Dagegen sehen sie es als ihr Grundrecht, dass ihnen die Eltern die Mitgliedschaft in einem Fitness-Club finanzieren, damit sie dort auf dem Laufband auf der Stelle treten können.

Von wegen Zeit ist Geld. Die ist inzwischen unbezahlbar. Genau das hat halt auch die IG Metall erkannt, weshalb sie ihren Mitgliedern eben besagte Option auf eine 28-Stunden-Woche erstreiten will. Und weil der Mensch wankelmütig ist, soll er sich nicht auf Dauer für eine solche entscheiden müssen, sondern nach spätestens zwei Jahren wieder auf eigenen Wunsch in Vollzeit zurückkehren können. Das finde ich sehr vorausschauend von der Gewerkschaft. Wer weiß schon, ob Ganztagsstellen nicht bald wieder total angesagt sind. Möglicherweise dann, wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder steigt, weil die Unternehmen lieber im Ausland produzieren, wo die Arbeitslust größer ist oder hier Roboter-Kollegen die Jobs übernehmen.

Weniger schön ist eine solche Stundenreduzierung natürlich für die verbleibenden Vollzeitmalocher. Für diese heißt das dann halt Überstunden machen. Irgend jemand muss die Aufgaben des Freizeitfans ja übernehmen, bis er wieder Lust darauf hat, mehr zu arbeiten. Das ist ungerecht? Stimmt, aber ich habe ja auch nur gesagt, das könnte mir für mich gefallen. Wer wissen möchte, wie das große Ganze dann noch funktionieren soll, der frage doch einfach die Gewerkschaft mit den pfiffigen Ideen.
Anne-Marie Glaser

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