Eine Begegnung mit der ladinischen Kultur
Mythen und Helden eines steinernen Kolosseums

Eingangstor zum Fassa-Tal: Eingebettet liegt Moena in einem Becken inmitten der zauberhaften Dolomiten mit ihren bekannten Gebirgsstöcken, darunter der Rosengarten, Langkofel, Monzoni und der Latemar. | Foto: Daniel Basler
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  • Eingangstor zum Fassa-Tal: Eingebettet liegt Moena in einem Becken inmitten der zauberhaften Dolomiten mit ihren bekannten Gebirgsstöcken, darunter der Rosengarten, Langkofel, Monzoni und der Latemar.
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Im Val di Fassa türmen sich die Dolomiten wie versteinerte Wellen, uralt und unerschütterlich. Zwischen Marmolada-Gletscher und Vajolet-Zinnen wurde Alpingeschichte geschrieben – mit Seil, Heldentum und Streit um den Mauerhaken. Die archaische Kultur der Ladiner trotzt hier seit Jahrhunderten der Zeit, verwurzelt in Sprache, Gebräuchen, Gemeinschaft und einem ausgeprägten Überlebenswillen. Im Museo Ladin verschmelzen Masken, Trachten und Werkzeuge zu einem lebendigen Porträt dieser Identität. Dörfer wie Moena, Pozza und Soraga sind keine Postkarten-Nostalgie, sondern lebendige Zeugen eines widerstandsfähigen Erbes. Meine Reise führte mitten hinein – in ein Tal, das zugleich wild, stolz und tief verwoben mit seiner Geschichte ist.

Hinauf zum Licht der magischen Berg-Riesen: Es ist der Moment, in dem der Himmel aufreißt. Ein feiner Goldstreif bricht durch das Grau, zeichnet Konturen in das Gestein, lässt die Wände glühen, als hätten sie Feuer gefangen. Die Dolomiten, die weltberühmten Bleichen Berge, entziehen sich jeder Beschreibung. Sie sind Skulpturen aus Zeit, Mythos, Kalk und Dolomit. Und mittendrin liegt ein Tal, das mehr bewahrt als nur Schönheit: das Val di Fassa – ein ladinischer Mikrokosmos, der abenteuerliche Alpingeschichte, kulturelle Eigenständigkeit und landschaftliche Wucht in sich vereint.

Tal der Stimmen

Die Reise beginnt in Moena, der so genannten „Feen-Gemeinde“, die seit 2011 zu den Alpine Pearls, den besten Gebirgstouristen-Orten Europas gehört, wo die Häuser bemalt sind wie Kapitel eines Märchenbuchs. Es riecht nach frisch gebackenem Brot und Lärchenholz. In den Straßencafés spricht man Italienisch, vereinzelt Deutsch – aber am Flüstern zwischen den Tischen hört man eine andere Sprache: Ladinisch. Eine Sprache, die klingt wie eine Erinnerung an längst vergangene Reiche. Sanft, melodisch, rund, fast Französisch, aber eigen.
Ich spreche mit Marta, einer jungen Lehrerin aus Soraga, die im Café neben mir am Hauptplatz, der Piazza Italia, sitzt und sich für den Erhalt der ladinischen Sprache einsetzt. "Unsere Sprache, eine Mischung aus dem Vulgärrömischen der Legionäre und der Räter, die hier einst lebten, ist wie ein Gebirgsbach", sagt sie, "klar, lebendig, aber verwundbar. Wenn sie versiegt, stirbt etwas in uns." In ihrer Schule wird auf Ladinisch unterrichtet. Eine stille, aber standhafte Form des Widerstands gegen das Vergessen, gegen eine stille Assimiliation.

Die Kathedralen der Erde

Mit dem Linienbus fahre ich von Moena kommend über Pozza di Fassa tiefer ins Tal, Richtung Canazei, wo die Gipfel näher rücken und der Horizont schrumpft. Doch mein Ziel ist an diesem Tag ein anderes. Am Wanderparkplatz in Pera di Fassa (Pera bedeutet im Ladinischen "Stein") angekommen, schultere ich den Rucksack – und marschiere los, gestärkt durch ein üppiges Frühstück geht es locker bergauf. Über den Weiler Monzon mitten hinein in das Eingangstor zur wundervollen Bergwelt der Vajolet-Türme und der Gardeccia-Senke und noch ein Stück höher bis zum legendären Symbolort, dem Rifugio Vajolet, auf über 2200 Metern. Der Pfad dorthin ist eine Lektion in Geologie und Demut, er windet sich durch wechselnde Zonen der Vegetation: steinige Matten, Bergkiefer, Latschen, dann Fels und Geröllhalden. Plötzlich stehen sie vor mir, die Vajolet-Türme – kühn, rauh, kolossal. Ihre Silhouetten, in deren Angesicht die Geschichte des Kletterns geschrieben wurde, durchschneiden das Himmelsblau wie Messer durch Seide.

Es ist still, bis auf den Ruf eines Bartgeiers, und ein mich überkommendes Gefühl, als würden Geister um mich herumtanzen in diesem steinernen Kolosseum. Kaum in die Vajolet-Hütte eingetreten, blitzen mir ihre Porträts von den ehrwürdigen Wänden entgegen. Es sind die Titanen der Vertikalen, darunter Georg Winkler, Tita Piaz, Paul Preuss oder Maurizio Zanolla („Manolo“), die mir ihrer Kühnheit eine gänzlich neue Ära alpinen Bergsports einläuteten.
Ich stelle mir vor, wie Tita Piaz, geboren in Pera di Fassa, seine Seile ordnet. Ein Mann mit schwarzem Bart, fester Stimme, messerscharfem Verstand – aber auch ein Lokalheld, ein ladinischer Rebell, der mit Humor, Mut und körperlicher Präsenz zum „Teufel der Dolomiten“ wurde. Und gegenüber steht der asketische Wiener Paul Preuss – fast mönchisch in seiner Haltung, radikal im Denken, ein Idealist, der keinen Haken duldete und glaubte, dass ein Gipfel nur dann verdient sei, wenn er ohne künstliche Hilfe erreicht wird. Ihr „Mauerhaken-Streit“ um den „reinen Stil“ wurde zur Legende – nicht aus Eitelkeit, sondern gespeist aus ethischen Haltungen, die das Wesen des Bergsteigens bis heute prägen. Zwischen ihnen ein Dritter: Georg Winkler, ein jugendlicher Shootingstar aus München, der 1887 im Alter von gerade mal 17 Jahren den nach ihm benannten Torre Winkler solo erklomm – eine Heldentat, bei der selbst gestandene Bergführer den Atem anhielten. Winkler starb nur ein Jahr später bei einem Lawinenunglück, doch sein Name ist in diese Felsen eingemeißelt, für immer. Die schroffen Zinnen – Delago, Stabeler, Winkler – sind mehr als steile Felsspitzen. Sie sind Monumente menschlichen Wagemuts, die hinterlassenen Bücher der Verstorbenen. Ihre Seiten bestehen aus Kalk, überhängenden Rissen und glatten Platten, ihre Kapitel aus Griffen und Tritten, Seilschaften mit Hanfseilen und nagellosen Lederschuhen.

Am nächsten Tag, im ersten Morgenlicht, steige ich ab. Es fühlt sich an wie ein sanftes Ausklingen einer Symphonie. Jeder Schritt durch das steinerne Amphitheater des Rosengartens hinab ließ die hochalpine Stille langsam dem Leben des Val di Fassa weichen. Unter mir breiten sich wieder die smaragdgrünen Lärchenwiesen aus, gesprenkelt mit Alpenrosen. Ein dumpfes Grollen – irgendwo in den Flanken der Catinaccio löste sich ein Felsbrocken – ist die letzte, respektvolle Mahnung der Dolomiten. Sie erfüllt mich mit einer wachen Zufriedenheit. Als ich die sonnenbeschienenen Holzhäuser meines Ausgangspunkts erreiche, bin ich kein Tourist mehr, sondern ein Heimkehrer, beladen mit den Bildern eines Gebirgsstocks im Abendlicht, der rosa aufglüht, ein Spiel aus Mineralien, Sonnenstand und Magie – die einmalige Enrosadira (das Alpenglühen) –, und den Rufen vorbeiziehender Hirten mit ihren kleinen Herden Tiroler Bergschafe.
Im Ort wirken die Häuser, fest verwurzelt im steilen Gelände, nicht mehr nur malerisch, sie bezeugen geradewegs den jahrhundertealten Dialog zwischen den Einheimischen und der herausfordernden Umgebung – eine Verbindung, die neugierig macht und mich dazu bewegt, am nächsten Tag das Museo Ladin de Fascia aufzusuchen.

Begleitet von einem sonnigen Vormittag betrete ich das ladinische Museum in Vigo di Fassa, das zur Gemeinde Sèn Jan di Fassa gehört. Kein protziger Bau, von außen schlicht, im Inneren eindrucksvoll, mit klar kuratierten Räumen., durchzogen von Holz, Glas und Licht. Wer hier eintritt, spürt sofort: Dieses Museum will nicht nur zeigen, sondern erzählen. Es erzählt von einem Volk, das inmitten der Dolomiten (über-)lebt – seit Jahrhunderten, unbeirrbar und mit erstaunlicher Sprachkraft. Ladinisch, ein Rätoromanisch mit Wurzeln im Lateinischen, wird heute noch im gut 20 Kilometer langen Val di Fassa gesprochen – auf der Straße, im Radio, in der Schule und geschrieben in der eigenen Wochenzeitung, der La Usc Di Ladins. All dies zeigt, die Sprache lebt, und sie ist der Schlüssel zur Identität einer Gemeinschaft, die sich selbst nie als Randkultur verstand, sondern als Zentrum ihrer eigenen Welt.

Die Ausstellung führt nicht linear durch die Zeit, sondern durch einzelne Themengebiete: Im Erdgeschoss stoße ich auf Spuren urzeitlicher Besiedlung: Werkzeuge, Tonscherben, Schmuck. Keine anonymen Vitrinen, sondern Szenen, eingebettet in Ton und Film, in Fragen und Stimmen. Es ist ein Blick in die Vergangenheit, der bewusst persönlich bleibt. Eine Etage höher öffnet sich der Alltag vergangener Jahrhunderte: Hier dreht sich alles um das Leben der Bergbauern, um Holz, Milch, Käse, Wolle. Die Werkzeuge sind nicht bloß ausgestellt, sie wirken, als wären sie gerade erst aus der Hand gelegt worden. In einer nachgebauten Stube (die Stua) aus dem 18. Jahrhundert riecht es beinahe nach Rauch. Ich verweile vor einer Handspindel und frage mich, wer sie zuletzt benutzte. Es ist diese Nähe, die das Museum schafft – eine Form der Erinnerung, die nicht fern wirkt, sondern körperlich.
Dann die Masken: geschnitzt, bemalt, wild. Sie stammen vom archaischen ladinischen Karneval, dem Carnascèr, einer tief verwurzelten Tradition voller Symbolik, Lärm und Rollenwechsel. Figuren wie der Bufòn oder der Lachè begleiten das Tal seit Jahrhunderten. Die Masken hängen hier nicht still – sie scheinen auf ihren Einsatz zu warten. Und sie erzählen von einem kulturellen Gedächtnis, das über Generationen weitergetragen wurde, nicht über Bücher, sondern über religiöse Feste, Märkte, Brauchtum, Mythen und Sagen.

Ganz oben im Museum schließlich das Heute. Fotos, Tonaufnahmen, Interviews mit Einheimischen, Beispiele vom Wandel der Täler – vom Ersten Weltkrieg, Alpinismus und Tourismus, von Abwanderung und Rückkehr, von Tradition und Moderne. Ein riesiger Bildschirm zeigt die Legende der La vivana scacciata, einer mythologischen Wächterin der Wälder, deren Geschichte berührt und staunen lässt. Die Darstellung ist digital, aber nie distanziert – sie zieht hinein. Wie ein lebendiges Buch, das mit jedem Besucher neu aufgeschlagen wird.
Was das Museum aber wirklich besonders macht, ist das, was außerhalb seiner Mauern geschieht. Im Tal wird auf Ladinisch – für 6000 Bewohner ist es ihre Muttersprache (kein Dialekt) kommuniziert – nichts wirkt museal konserviert, sondern ist in den Dörfern überall sichtbar und präsent. Die Straßenschilder sind dreisprachig – Italienisch, Deutsch, Ladinisch. Im Radio läuft jeden Tag ein eigenes ladinisches Programm des privaten Senders Radio Gherdëina Dolomites. Und in den Schulen wird die Sprache von Anfang an unterrichtet. „Wir sind zwar eine sprachliche Minderheit, aber wir sind noch hier und das in einer Gemeinschaft, die zusammenhält“, sagt Patrizia Casari, eine Mitarbeiterin des Museums. „Sie ist nicht Folklore. Sie ist Alltag.“ In ihrer Stimme liegt Überzeugung, aber auch Stolz. Ich erfahre, dass es Außenstellen des Museums gibt – ein altes venezianisches Sägewerk, eine Wassermühle, ein Molkereibetrieb, ein Schießstand aus dem 19. Jahrhundert. Diese Orte sind nicht einfach Ausstellungen, sie sind Erlebnis-Räume: Dort wird Geschichte nicht gezeigt, sondern realistisch veranschaulicht.

Was mich an diesem Tag in Vigo wirklich fasziniert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der hier Tradition und Moderne nebeneinanderstehen. Es gibt keine starre Gegenüberstellung, kein „früher war alles anders“. Die Menschen hier wissen, dass Geschichte nur dann eine Zukunft hat, wenn sie heute Sinn ergibt. Und genau das gelingt dem Museum: Es erzählt nicht nur, was war – es zeigt, was bleibt. Die ladinische Kultur hat in der globalisierten Welt ihren Platz gefunden. Sie verteidigt ihn nicht, sie behauptet ihn. Mit Sprache, mit Stolz, mit Neugier. Wer in das Val di Fassa kommt, trifft nicht auf eine vergangene Welt, sondern auf eine Gegenwart, die sich ihrer Herkunft bewusst ist. Das Museum ist ihr Spiegel – still, klar, vielstimmig. Und unvergesslich.

Text / Fotos: Daniel J. Basler

Alle wichtigen Informationen zu Natur, Bergtouren, Trekking, Kunst, Hotellerie und Gastronomie, Hütten und Freizeitangeboten für Groß und Klein in den sieben Orten des Val di Fassa (Fassa-Tal) im Herzen des Trentino finden sich u.a. auf folgenden Internetseiten: www.fassa.com, www.dolomiti.it, www.trentino.com, www.visittrentino.info, www.dolomiten-suedtirol.com, www.suedtirol.info, www.istladin.net, www.guidealpinedolomiti.net, www.gardeccia.it, www.rifugiovajolet.com, www.rifugiopaulpreuss.com und www.rifugioantermoia.com.

Museumsbesuch: Es gibt regelmäßige Führungen im Ladinischen Museum von Fassa in Vigo di Fassa; Dauer etwa 1,5 Stunden, eine telefonische Reservierung ist notwendig,
Telefon.: +39 0462 760182

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