Selektiver Mutismus lässt Menschen verstummen, obwohl sie sprechen wollen
Wenn die Angst einem Kind die Sprache verschlägt

Beim totalen Mutismus kommunizieren Betroffene überhaupt nicht mehr verbal mit ihrer Umgebung. Verstummen sie lediglich außerhalb ihres vertrauten Umfelds, spricht man vom selektiven Mutismus. | Foto: Foto: sdk
  • Beim totalen Mutismus kommunizieren Betroffene überhaupt nicht mehr verbal mit ihrer Umgebung. Verstummen sie lediglich außerhalb ihres vertrauten Umfelds, spricht man vom selektiven Mutismus.
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Ortenau. Kinder toben auf dem Pausenhof der Schule. Jungs werfen sich lauthals Bälle zu, Mädchen
haben sich in Kleingruppen zusammengetan und sich offensichtlich viel zu
erzählen. Nur Sophia (Name von der Redaktion geändert)  sitzt
teilnahmslos auf der Treppe zum Eingang, schaut den spielenden Kindern
zu und wartet darauf, dass es wieder zum Unterricht läutet. So ist es
Tag für Tag. Kein Mitschüler spricht sie an.

Im Unterricht fragt die Lehrerin Sophia, ob sie die Aufgaben verstanden hat. Sophia
antwortet nicht. Die Lehrerin startet einen zweiten Versuch und wartet
schon leicht ungeduldig auf die Antwort, doch Sophia antwortet wieder
nicht. Stattdessen senkt sie den Blick zu Boden. Die Erwartungshaltung
der Lehrerin und der inzwischen auch unruhig gewordenen Mitschüler üben
auf Sophia einen enormen Druck aus. Sie hatte sich so fest vorgenommen,
zu antworten und es wieder nicht geschafft.

Sophia leidet unter selektiven Mutismus und das schon seit sie denken kann. Zuhause ist
alles ganz einfach. Da plappert sie einfach drauflos, ist laut, spontan
und kann sich sogar verbal gegen ihren älteren Bruder durchsetzen. Nur
außerhalb ihres vertrauten Umfelds wird sie stumm. Es verschlägt ihr
regelrecht die Sprache, wenn sie in Gemeinschaft vieler Menschen
angesprochen wird. Dabei wünscht sie sich doch nichts sehnlicher als
dazu zu gehören, mitreden zu können und nicht mehr länger alleine zu
sein. Das nimmt sie sich so fest vor und versagt immer wieder aufs Neue,
wonach ihr innerer Leidensdruck immer größer wird. Sophia ist
mittlerweile 13 Jahre alt, besucht die sechste Klasse einer Realschule
und spricht mit niemandem außerhalb ihrer Familie.

Mutismus zählt zu den eher seltenen Phänomenen in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Der Umgang mit mutistischen Menschen stellt eine
große Herausforderung dar, bei einem hartnäckig Schweigenden gelassen zu
bleiben. Gerade Erzieher und Lehrer machen schweigende Kinder oder
Jugendliche hilflos – und manchmal auch wütend. Die Beziehung wird nicht
selten als enttäuschend, anstrengend oder sogar als provozierend
erlebt. Aber gerade ein Mensch mit selektivem Mutismus wird solche
Gefühle mit seiner großen Sensibilität spüren.

Im selektiven Schweigen, das für sie mittlerweile so vertraut geworden ist, findet
Sophia eine sinnvolle Form der Bewältigung ihrer diffusen Ängste vor
Menschen, die immer zu Stresssituationen führen. Durch ihre Erfahrungen
ist sie zur Meinung gelangt, dass sie kommunikative Anforderungen nicht
bewältigen kann und steht in jeder Situation außerhalb ihres
Elternhauses unter ängstlicher Anspannung. „Sie war schon als Kleinkind
sehr ängstlich und hat sich vor anderen Kindern gefürchtet“, erzählt
ihre Mutter und vermutet, dass wahrscheinlich noch eine erbliche
Veranlagung zur Schüchternheit erschwerend hinzukommt.

Sophia hilft in jeder akuten Stresssituation ihr Schweigen dabei, die erlebte
Bedrohung, angesprochen zu werden, im Zaum zu halten. Ihre Ängste sind
diffus: Sie nimmt sogar die vermeintliche Gefahr gedanklich vorweg und
entgeht ihr durch ihr Schweigen. In der Schule benötigt das mutistische
Kind oder der Jugendliche Lehrer, die auch gewillt sind, sich der
Herausforderung zu stellen, ein schweigendes Kind in der Klasse zu
haben.

Rainer Bahr, Autor des Buches „Wenn Kinder schweigen“ fordert sogar einen ganz behutsamen Umgang mit schweigenden Kindern in
der Schule und hat in seinen Achtsamkeitsübungen einen guten
Lösungsansatz nicht nur für Lehrer gefunden. Er schreibt: „Man könne
sich doch einmal in die Situation des Schweigenden hineinversetzen. Wie
fühlt man sich, wenn man angesprochen wird und nicht antwortet? Und wenn
man wieder und wieder gefragt wird und immer noch nicht antwortet?“
Laut Bahr ist das eine sinnvolle Übung zum achtsamen Umgang mit einem
schweigenden Menschen. Denn eine harmonische Umgebung und gelassene,
empathische Mitmenschen sind es, was ein selektiv mutistischer Mensch
benötigt.

Die deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie definiert selektiven Mutismus wie folgt: „Es handelt
sich um eine emotional bedingte Störung der Sprachlichen Kommunikation.
Sie ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in
definierten Situationen gekennzeichnet. Artikulation und
Sprachentwicklung liegen im Normbereich.“ Laut dem Deutschen
Bundesverband für Logopädie ist der selektive Mutismus eine seltene
psychische Störung, eins bis sieben von tausend Kindern sind in
Deutschland betroffen, Mädchen 1,6 bis 2,6 Mal häufiger als Jungen.

Autor: sdk

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